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„Jagen ist leichter als ‚Sagen, was ist‘“

Wie verändert sich der politische Journalismus? Eine Diskussion am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft wurde im Radio gesendet

05.03.2024

Onlinejournalistin Victoria Reichelt: Die Menschen auf den Medienplattformen abholen, auf denen sie unterwegs sind.

Onlinejournalistin Victoria Reichelt: Die Menschen auf den Medienplattformen abholen, auf denen sie unterwegs sind.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Der Politiker steigt aus dem Auto, eine Menschentraube bildet sich um ihn, Reporter rufen Fragen, Tontechniker strecken Mikrofone vor, Kameraleute drängeln sich für wenige Sekunden Bildaufnahmen: Solche Szenen sind typisch für „Die Meute“, ein Dokumentarfilm der Fotografin Herlinde Koelbl von 2001. Der Film wirft einen schonungslosen Blick auf die raue Kultur im politischen Journalismus, der mit dem Bundestag kurz zuvor von Bonn nach Berlin umgezogen war und auf dem neuen Pflaster um die besten Plätze rang.

Diesem Film entliehen ist „Die Meute von morgen“, der Titel einer Diskussionsveranstaltung am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Eingeladen hatte Korbinian Frenzel, der für Deutschlandfunk Kultur unter anderem die politische Gesprächssendung „Studio 9“ moderiert. Die Diskussion bildete den Schlusspunkt eines Seminars des Journalisten, in dem er Studierende der Universität, an der er einst selbst Politikwissenschaft studiert hat, hinter die Kulissen des politischen Journalismus geführt hat.

Journalist und Seminarleiter Korbinian Frenzel blickte mit seinen Studierenden hinter die Kulissen des politischen Journalismus

Journalist und Seminarleiter Korbinian Frenzel blickte mit seinen Studierenden hinter die Kulissen des politischen Journalismus
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Gekommen waren aber weitaus mehr als die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars. Vor dem vollen Hörsaal saßen die neue rbb-Intendantin Ulrike Demmer, die funk-Onlinejournalistin Victoria Reichelt und Thorsten Faas, Professor für Politische Soziologie an der Freien Universität. Aus der Deutschlandradio-Familie komplettierte der Leiter des Deutschlandfunk-Hauptstadtstudios Stephan Detjen das Podium, zudem fuhren zwei Sendewagen voller Tontechnik an die Universität, um die Veranstaltung aufzuzeichnen – nun kann man sie als Podcast hören.

Meuteneffekte physisch miterlebt

„Heftige Zustände“ habe es damals gegeben, bestätigte Stephan Detjen, der seit 1999 aus dem politischen Berlin berichtet. Herlinde Koelbls Film habe eine „Konjunktur kritischer Reflexionen“ über den Journalismus begründet. Thorsten Faas lobte den Begriff der „Meute“ als eine treffliche Analogie, wenn sich das Gros der Journalistinnen und Journalisten wie Hunde auf der Jagd auf ein einziges Thema oder eine Person fokussiere, nur um nach einer Weile zum nächsten „Opfer“ zu ziehen. „Manchmal sehen wir das durchaus“, sagte der Politologe, und dabei drohten die anderen Themen aus dem Blick zu geraten.

rbb-Intendantin Ulrike Demmer: Klickzahlen setzen das Anreize für Zuspitzung, nicht für Graustufen

rbb-Intendantin Ulrike Demmer: Klickzahlen setzen das Anreize für Zuspitzung, nicht für Graustufen
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Mit 1,59 Meter Körpergroße habe sie die Meuteneffekte ganz physisch miterlebt, sagte Ulrike Demmer. Als Journalistin hat sie viele Jahre lang für verschiedene Medien aus Berlin berichtet, erlebte ihren Berufsstand anschließend als stellvertretende Sprecherin der Merkel-Regierung von der anderen Seite, bevor sie im Herbst vergangenen Jahres an die Spitze des rbb wechselte. Ihr bereiten vor allem die ökonomischen Bedingungen des Journalismus Sorgen. Wenn jeder einzelne Beitrag nach Klickzahlen bemessen werde, setze das Anreize für Zuspitzung, nicht für Graustufen, obwohl diese umso wichtiger seien in einer Welt, die heute noch viel komplizierter sei als noch zu Herlinde Koelbls Zeiten. „Es ist leichter zu jagen und Meinungen zu äußern als ‚Sagen, was ist‘“, sagte Demmer, die damit Rudolf Augsteins Losung für guten Journalismus zitierte.

Der politische Journalismus sei durchaus besser geworden, argumentierte Stephan Detjen. Die von Alkohol und Machtgehabe geprägte Bonner Zeit seit ebenso vorbei wie die wilden ersten Berliner Jahre mit ihrer harten Konkurrenz um den schnellsten „Scoop“. Heute sei klar: „Wir sind nur überlebensfähig, wenn wir Glaubwürdigkeit erzielen, profund sind und erklären.“ Entsprechend seien tiefgründige neue Formate, etwa Politik-Podcasts, die detailliert in komplexe Themen einführen, ein großer Erfolg und bescherten dem Deutschlandfunk stetig wachsende Hörerzahlen.

Zahlreich erschienen: Publikum bei der Hörfunk-Aufzeichnung im Otto-Suhr-Institut

Zahlreich erschienen: Publikum bei der Hörfunk-Aufzeichnung im Otto-Suhr-Institut
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Plattformisierung des Journalismus 

Victoria Reichelt war die Referenz zu Koelbls Dokumentation im Titel der Veranstaltung entgangen. „2001 war ich nämlich fünf“, sagte die Journalistin, die im Auftrag von ARD und ZDF auf den YouTube-Kanälen „DIE DA OBEN!“ und „Die Spur“ sowie in Podcasts, auf Instagram und TikTok über Politik redet. „Wir versuchen einen Journalismus für alle jungen Menschen zu machen, auch die, die nicht in Berlin leben oder auf Anhieb das ganze Kabinett aufzählen können“, sagte Reichelt. 

Damit stand sie exemplarisch für innovative Antworten auf die Frage, wie der Journalismus auf den Medienwandel reagieren sollte. Denn in einer Welt, in der die Algorithmen der sozialen Medien darüber entscheiden, welche Inhalte gesehen werden, gebe es, so die übereinstimmende Diagnose auf dem Podium, eine wachsende Gruppe, die der klassische Journalismus nicht mehr erreicht. 

Politikwissenschaftler Thorsten Faas: die Macht der Plattformbetreiber nicht kritiklos hinnehmen

Politikwissenschaftler Thorsten Faas: die Macht der Plattformbetreiber nicht kritiklos hinnehmen
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Soll sich der Journalismus den intransparenten Regeln der Plattformen unterwerfen? Victoria Reichelt sah dies pragmatisch: Noch so guter Journalismus sei wenig wert, wenn er nicht wahrgenommen werde, er müsse die Menschen auf den Medienplattformen abholen, auf denen sie unterwegs seien. TikTok-Videos, maximal 60 Sekunden lang, böten zwar wenig Raum für Nuance, schafften bei den Nutzerinnen und Nutzern aber Vertrautheit: „Wenn sie mein Gesicht zehnmal gesehen haben, dann klicken sie auch auf ein YouTube-Video, das eine 20-minütige Analyse ist“, sagte Reichelt. 

Zersplitterung der Medienwelt

Thorsten Faas wandte ein, dass man die Macht der Plattformbetreiber nicht kritiklos hinnehmen müsse. „Das sind kritische Infrastrukturen für die Demokratie“, sagte der Wissenschaftler. Die Diskussionen über Regulierung seien zu passiv – anders als noch beim privaten Rundfunk, den man unter anderem dazu verpflichtet hatte, Wahlwerbespots zu senden. Ähnliche Regeln könnte man sich auch für soziale Netzwerke ausdenken, so Faas. „Manchmal sind wir sehr schüchtern darin, was wir uns als Gesellschaft zutrauen.“

Die Diskussion machte deutlich, dass mit dem politischen Journalismus ganz grundlegende Fragen über die politische Öffentlichkeit zusammenhängen. Die neue Medienwelt drohe die Öffentlichkeit in mehrere Teil- und Parallelöffentlichkeiten zu fragmentieren, warnte Stephan Detjen. Was in den USA bereits sehr weit vorangeschritten sei, könne auch in Deutschland eintreten. Das sei eine gefährliche Entwicklung: Denn wenn die liberale Demokratie zugrunde gehe, so Detjen, dann werde die Zersplitterung der Öffentlichkeit einen wesentlichen Teil daran gehabt haben.